22. Kapitel
Der Duft von exotischen Blumen erfüllte ihre Nase, Gerüche, die sie nie zuvor gerochen hatte, ja von denen sie nicht einmal geträumt hätte. Auf einmal wurde ihr klar, dass dies der schönste Tag ihres Lebens war.
Nachdem Patrick sie mit seinen Küssen geweckt und sie geliebt hatte, hatte sie erwartet, dass er sich für den Rest des Tages verabschieden würde, doch stattdessen hatte er sie hierher in den Botanischen Garten gebracht. Sie selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen, hierherzugehen, hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas existierte. Doch nun war sie hier, und sie war im siebten Himmel.
»Wieso sind keine anderen Leute hier?«, fragte sie, während sie durch ein Gewächshaus schlenderten.
»Heute ist geschlossen, aber der Direktor ist ein guter Bekannter von mir.«
»Ach ja?« Violet lächelte. Wen kannte Patrick eigentlich nicht?
»Oder besser gesagt, ich kannte seinen Vater, Joseph Hooker. Ein brillanter Mann, war lange Professor an der Glasgow University. Ich habe ihn eines Tages, bei einem Lunch mit Darwin, kennen gelernt... Manche Menschen vergisst man nie.«
Violet nickte. Ja, manche Menschen vergaß man nie, selbst wenn man wollte.
»Was ist?« Patrick blieb stehen und nahm sie bei den Händen.
»Was meinst du?«, fragte Violet verwirrt.
»Du hast gerade eben die Stirn gerunzelt. Sag mir, warum«, bat Patrick ernsthaft.
»Ich...« Violet überlegte, was sie sagen sollte. Warum nicht die Wahrheit? Es war lange her, und schaden konnte es auch nicht. »Ich dachte gerade, dass du recht hast, manche Menschen vergisst man nicht. Vor allem... wenn der erste Eindruck nicht gut ist.«
»Ich hoffe, du meinst nicht mich«, sagte er trocken, und Violet lachte.
Sie entzog ihm ihre Hände und ging weiter. Der beruhigende Duft von Rosen stieg ihr in die Nase. Sie hatte nie über ihre Zeit in der Taverne gesprochen. Es war lange her, wie ein böser Traum, eine Art Übergangsperiode, wie sie es jetzt betrachtete, zwischen ihrer Kindheit auf der Burg und ihrer Zeit bei den Zigeunern.
»Meine Eltern starben, als ich sieben war, und ich wurde zur Arbeit in einer Taverne gezwungen«, begann Violet. Patrick brauchte nicht zu wissen, wie es kam, dass sie dort landete. Er brauchte nicht zu wissen, dass die Wirtin sie halb verhungert im Wald gefunden hatte. Oder dass ihre Mutter durchaus noch am Leben war. »Ich war noch zu jung, um als Kellnerin zu arbeiten, also hat mich die Wirtin, eine grobe Frau, in eine Ecke gesetzt, mir einen Sack Kartoffeln hingestellt und ein Messer in die Hand gedrückt. »Blind oder nicht«, hat sie immer gesagt, »du hast zwei gesunde Hände, also tu was für dein Brot. Schäl Kartoffeln.«
Patrick ging schweigend neben ihr her. Wenn er eine Bemerkung gemacht hätte, hätte sie vielleicht aufgehört zu erzählen, aber er sagte nichts, also fuhr sie fort.
»Zuerst habe ich mich ständig geschnitten, und die Wirtin wurde böse, weil die Kartoffeln blutig waren. An solchen Tagen bekam ich dann nichts zu essen. Ich habe schnell gelernt, Kartoffeln zu schälen, ohne mich zu schneiden. In der Küche lagen immer irgendwelche Lappen herum. Ich nahm zwei und wickelte sie mir um die Hände. Das hat die Arbeit zwar doppelt so schwer gemacht, aber immerhin habe ich mich nicht mehr geschnitten. Und ich musste nicht mehr hungern.«
Violet stieß zitternd den Atem aus. Sie musste daran denken, wie die Wirtin sie einmal dabei erwischt hatte, wie sie sich zwei Lappen aus der Küche nahm. Sie hatte ihr damit gedroht, sie ihren Gästen zu überlassen, wenn sie sie noch mal dabei erwischte, wie sie etwas aus der Küche stahl. Violet hatte zu dem Zeitpunkt lange genug in ihrer Ecke im Schankraum gesessen, um zu wissen, was sie damit meinte.
Patrick nahm sie bei der Hand und führte sie zu einer mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Holzbank. Schweigend setzten sie sich.
»Eines Abends, als ich Kartoffeln schälte, kam ein Mann zu mir. Er roch nach billigem Whisky. Er sagte nicht viel, aber er hielt sich ständig in meiner Nähe auf. Ich wusste, dass er... dass er böse war. Das spürte ich irgendwie.«
Sie musste an seine Pranken denken, wie er sie geweckt hatte, indem er an ihren Fußgelenken zerrte.
»Später wurde mir klar, dass dieser Mann kleine Mädchen erwachsenen Frauen vorzog«, sagte sie erschaudernd. Sie schüttelte das alte Gefühl der Ohnmacht ab. Die Menschen waren eine gewalttätige Spezies, das hatte sie vor langer Zeit gelernt. Und sie hatte gelernt, dass man nicht schwach sein durfte, denn das nutzten manche aus.
Niemand durfte sie für schwach halten. Violet zwang sich zu einem grimmigen Lächeln.
»Ich bin ihm entkommen, also ist es nicht weiter wichtig. Aber ich weiß, was du meinst, wenn du sagst, manche Menschen vergisst man nie.«
Wie sehr sie sich gefürchtet hatte in jener Nacht, als sie von dem Mann, von der Taverne davonlief. Sie wusste nicht, was aus ihr geworden wäre, wenn die Zigeuner nicht aufgetaucht wären. Aber das waren sie. Die Seherin hatte sie gerettet.
»Du bist so schön«, sagte Patrick und streichelte ihre Wange. Violet merkte, wie gerne sie es mochte, wenn Patrick sie streichelte.
»Und so stark.« Er hob ihr Kinn und gab ihr einen zärtlichen Kuss, einen Kuss, der sie alle schlimmen Erinnerungen vergessen ließ. Zurück blieb eine seltsame Schüchternheit.
Warum fühlte sie sich bei diesem Mann so behütet, so geborgen? Die Erkenntnis, dass er ihr schon viel zu nahe gekommen war, ließ sie zurückweichen.
»Wir haben die Orchideen noch gar nicht gesehen. Du hast doch versprochen, sie mir zu zeigen.«
Patrick lachte. »Wie nachlässig von mir! Selbstverständlich werde ich dir die Orchideen zeigen. Komm.«